Leib, Lust und Leid
Leib
Gemeinhin bezeichnet man den weiblichen als auch männlichen Leib als Körper.
Gemalt, als Skulptur und fotografisch dargestellt, aber auch literarisch wird er als Körper beschrieben. Man behandelt ihn wie einen beliebigen Gegenstand.
Allein dieser Terminus „Körper“ offenbart, wenn auch unbewusst, unser Verhältnis zum Menschen und zeigt damit das Dilemma des Umgangs mit ihm.
Körper ist eine geläufige Bezeichnung für räumlich erfassbaren Gegenstände. Ob belebt oder unbelebt macht dabei keinen Unterschied. Er hat eine Ausdehnung und eine spezifische Masse, die berechenbar ist. Der Baukörper und so weiter. Mit anderen Worten, Seelen- und gefühllos, aber transversal, longitudinal und sagittal erfassbar.
Gemälde Paar mit Cupido.
Dieses Gemälde entstand im Jahr 1983, als wir uns entschlossen, dem real existierenden Sozialismus den Rücken zu kehren.
Die Persiflage ist ein probates Mittel, Gegebenheiten mit Humor zu durchstehen. Denn es war absehbar, dass uns eine harte Zeit bevorstand. Im Volksmund wurde damals der Westen Deutschlands der „goldene Westen“ genannt. Obwohl die Segnungen der Konsumwelt nicht unser Ziel war, benutzte ich den Cupido als Symbol. Dieser Knabe, der zuweilen den Schalk im Nacken hat führt zwei nackte Menschen (Adam und Eva) aus der Ruinenlandschaft des sozialistischen Paradieses in eine andere Wirklichkeit.
Da mir bewusst war, dass informelle Mitarbeiter der Stasi und andere Spitzel dieses Gemälde sahen, war sicher, dass die Botschaft ihren Empfänger erreicht.
Die Künstler in der DDR arbeiteten häufig mit Gleichnissen der antiken Mythologie, aber auch der christlichen Ikonograpie. Diese Gleichnisse waren für Absender und Empfänger gut lesbar und doch im gewissen Maße unangreifbar. Gleichwohl hätte dieses Bild nie eine Chance gehabt, ausgestellt zu werden, da ich als „negativ-dekadenter“ Künstler aktenkundig war.
Der menschliche Leib ist im Gegensatz zu einem Körper eine Einheit aus Geist und belebter Materie, die in ihrer menschlichen Ausformung Stimmungen, Gefühle, aber auch Affekte beinhaltet, die in ihrer Vielfalt und dem Zusammenwirken unberechenbar sind.
Er ist in der Lage, seine Umwelt wahrzunehmen und mit ihr zu kommunizieren. Jedoch zerstört er nicht nur seine Umgebung, sondern auch die gleiche Gattung. Darin unterscheidet sich der Mensch von jedem Säugetier und ist somit einzigartig.
Gläubige beten den verletzten und gekreuzten Leib Jesu an. Keiner käme auf die Idee Jesu einen geschundenen Körper zu nennen. Der Leib kann seine Seele aushauchen. Ein Körper kann dies nicht, da er seelenlos ist. Also ist schon in der Bezeichnung Körper die Missachtung des Menschlichen angelegt.
Es scheint bewiesen, dass die Leibfeindlichkeit in Verbindung mit einer restriktiven Moral zu einer aggressiven gesellschaftlichen Stimmung führt, die zu Verwerfungen führt und demokratische Prinzipien untergräbt.
Lust
Meist wird Lust mit Trieb gleichgesetzt und fälschlicherweise auf die Sexualität begrenzt. Aber die Aspekte sind auch mit den drei Attributen Leib, Lust und Leid noch nicht vollständig beschrieben.
In der bildenden Kunst geht es zuerst um Augenlust. Es gibt Lust auf eine Tüte Eis oder auf ein blutiges Steak. Lust zu musizieren oder einfach durch den Park zu flanieren. Andererseits kann man Lust durch die Betrachtung eines schönen Menschen empfinden, ohne eine dezidiert sexuelle Absicht zu haben. Wenn zeitgenössische Theologen auch heute schreiben … Sexualität und die sie begleitende Lust … tritt eine zutiefst jenseitige Auffassung zutage. Als sei die Sexualität eine von der Lust losgelöste Angelegenheit und die Lust, eine Sünde.
Links Korrekte und rechts zensierte Wiedergabe eines Wandbildes. Die Wiedergabe von 1887 zeigt den ursprünglich nackten rechten Feldarbeiter im Lendenschurz.
Eine ähnlich irrige Verbindung mit tiefrotem Warnhinweis ploppt derzeit bei vielen Protagonistinnen und Protagonisten des Kunstbetriebs auf, wenn sie einen vom männlichen Künstler gestalteten weiblichen Leib sehen. „Hylas und die Nymphen“ von John William Waterhouse, Balthus ohnehin und der arme Makart wird dann zu allem Überfluss von einem viel schreibenden Kunstbenutzer diskreditiert.
INFOBOX Selbstzensur
Zensur kann staatlicherseits verordnet oder von Personen, die vermeintlich eine Meinungshoheit erlangten, ausgeübt werden.
In Diktaturen versuchen sich Künstler zu schützen, indem sie Metaphern verwenden, die verschiedene Auslegungen erlauben. Zu diesem Zweck bedienen sie sich antiker Mythologien oder greifen auf die christliche Ikonografie zurück.
Im Ernstfall wendet der Staat Sanktionen an oder verbietet die Veröffentlichung. Wer den Mut hat, seine Existenz aufs Spiel zu setzen, setzt sich über diese Verfügungen hinweg. Muss jedoch mit Inhaftierung oder physischer Bedrohung rechnen.
In demokratischen Gesellschaften ist die Kunstfreiheit in der Verfassung oder dem Grundgesetz verbrieft und garantiert. Dennoch erlangen zuweilen gesellschaftliche Minderheiten oder Religionsgemeinschaften einen dermaßen großen Einfluss, dass sie durch gezielte Angriffe die Meinungs- und Kunstfreiheit beschränken können. Dies geschieht durch subtile Mechanismen, die letztendlich in Selbstzensur enden. Zum Beispiel durch islamistische Bedrohung.
Harmloser, aber nicht von minderer Bedeutung ist die aktuelle Selbstzensur im Zusammenhang mit # meToo.
Museen, Kunstvereine, Galerien und selbst Kunstmessen achten darauf, durch die Präsentation „anrüchiger“ Werke keinen Anstoß zu erregen und versuchen diese auszugrenzen. Es gibt Künstler, die malen seitdem lediglich Schmetterlinge und ziehen sich in ihre Gehäuse zurück.
WIKIPEDIA: Selbstzensur
LEID
Ein nackter Mensch ist per se ein verletzlicher.
Der in meiner Überschrift an dritter Stelle stehende Begriff wird in dem zuweilen oberflächlichen Diskurs über Nacktheit negiert, weil Mann oder Frau nur sieht, was er oder sie sehen möchte. Denn der Betrachter macht sich ein Bild und geht irrtümlich davon aus, dass der Bildner Gleiches mit seinem Tun beabsichtigte. Der „Kunstschaffende“ ist einer permanenten Fehlinterpretation ausgesetzt.
Wenn sich eine Peergroup entschlossen hat, einem ideologischen Ansatz zu folgen, werden Wahrnehmungen ausgeblendet und auch bei schlüssig vorgetragenem Wollen des Bildners verneint. Die gedanklich vorgefertigte Schablone ist das einzige Maß.
Für den unvoreingenommenen Betrachter ist es nicht wichtig, ob eine Verletzung sichtbar ist.
Allerdings ist es schlecht vorstellbar, dass der Heilige Sebastian bekleidet mit Pfeilen im Leib am Marterpfahl steht. Denn erst der schutzlose Leib zeigt das Leid in intensiver Form. Aber auch die Darstellung eines unversehrten nackten Leibes trägt a priori Verletzbarkeit in sich. Das Sichtbare im Unsichtbaren. Die Frage nach der Endlichkeit ist in der Gegenwart omnipräsent.
„Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“
Paul Klee
Differenziertere Stimmen werden hörbar. Dennoch befürchte ich, dass die Hysterie wegen der Darstellung weiblicher, nackter Leiber für einige Jahre das Kunstgeschehen immens beeinflusst hat. In Zeiten eskalierender Gewalt widmet sich die Kunst lieber der Dekoration und Oberfläche.
Dokumentation und Dokumente: Arbeiten 1980